Zum Seiteninhalt springen

Projektseminar „Theater der Politik – Politik des Theaters“

Projektbeschreibung:

Die Tatsache, dass die Demokratie und das Theater in Athen zeitgleich entstanden, hat immer wieder zu Spekulationen Anlass gegeben. Beide kulturellen Errungenschaften scheinen aufeinander bezogen zu sein. Es gibt nicht nur theatralische Aspekte in der Politik – aus gutem Grund spricht man beispielsweise von „politischer Inszenierung“; es gibt auch die Hoffnung, das Theater könne ein Reflexionsmedium freier Gesellschaften sein und in ästhetischer Form leisten, was sonst demokratische Parlamente zur Aufgabe haben: Zu verhandeln, wie wir leben wollen.

Eine zentrale Analogie zwischen Demokratie und Theater besteht zunächst in der Multiperspektivität und Polyphonie der Kommunikation. Die griechische Tragödie gibt paradigmatisch verschiedenen Stimmen ihr jeweiliges Gewicht, erlaubt die Kommentierung von Ereignissen aus konkurrierenden Perspektiven, erzieht zur Empathie selbst mit den Feinden (am deutlichsten wohl in Aischylos‘ Die Perser). Diese, dem Theater inhärente, Ambiguitätstoleranz scheint eine Voraussetzung für Demokratie zu sein. Vor allem das Motiv der „Perspektivenübernahme“ spielt in den zeitgenössischen Demokratietheorien eine zentrale Rolle, am deutlichsten im Paradigma der deliberativen Demokratie bei Jürgen Habermas. Das Theater als „moralische Anstalt“ (Schiller) wäre demnach eine Art vorbereitende Einübung in die dialogische Komplexitätsbewältigung. Stücke wie Antigone stellen in diesem Sinne zentrale Fragen auch unserer Gesellschaft: Fragen nach Gerechtigkeit, nach Mann und Frau, nach Gesetz und Ausnahme, nach Exklusion und Inklusion. Aus gutem Grund zieht die politische Theorie immer wieder die Theaterliteratur zur Veranschaulichung von Argumentationen heran.

Zugleich ist das Theater selbst ein Ort politischer Auseinandersetzung: Soziale Inklusion, die Hinterfragung von Hierarchien, die Freiheit der Kunst – in all diesen Fällen verdichtet das Theater die Konflikte unserer Zeit wie in einem Brennglas. „Repräsentation“ ist dabei ein zentraler, sowohl politischer wie auch ästhetischer Begriff. Nicht nur in der Demokratietheorie ist von einer „Krise der Repräsentation“ die Rede. Auch in der Theaterwelt eskalieren derzeit klassische Fragen: Wer darf wen repräsentieren, wer darf, wer muss welche Rolle spielen? Für wen wird das Theater gemacht? Die Frage nach Quotierungen, Repräsentationsansprüchen und der Messung von Leistung stellt sich nicht nur für Kabinette und Parlamente, sondern auch für Intendanzen und Besetzungslisten.

Der Begriff der „Rolle“ stellt im Kontext der Debatte um Repräsentation eine klassische Brücke zwischen den Sozialwissenschaften und der Ästhetik dar: Wer – sei es in einem Amt oder auf einer Bühne – eine Rolle ausfüllt, abstrahiert von jeder Individualität, zieht sich eine Richterrobe oder ein Kostüm über, pausiert also von seiner jeweiligen Singularität. Gerade um ein angemessenes Verständnis von „Rollen“ wird jedoch gestritten. Tendenzen wie Politainment und Populismus führen zur Rollendiffusion und lassen PolitikerInnen zu EntertainerInnen werden. Der Anspruch auf Authentizität scheint dem Theater fremd; dennoch wird auch hier problematisiert, wer und was (noch) von wem gespielt werden darf. Können auch Stücke, die unsere Gegenwart nicht mehr repräsentieren, die vormodernen

Sexismus, Kolonialismus und Rassismus beinhalten, noch auf die Bühne kommen – und wenn ja, wie? Wieviel Fremdheit wollen und können wir uns auch ästhetisch zumuten?

Diese Wechselwirkungen und Analogien verweisen auf die problematische Seite von Überblendungen: Das Theater kann sich darauf beschränken, Fragen zu stellen, die Politik muss hingegen Antworten formulieren. Ein Übermaß an Theatralität, Inszenierung und Ästhetisierung kann die Demokratie durchaus gefährden. Kann umgekehrt auch ein Übermaß an politischer Aufladung den Eigenwert des Theaters aushöhlen? Wie sehen zeitgenössische Antworten auf die Frage nach der „Politik des Theaters“ aus? Welche Rolle spielen Tendenzen der Technisierung des Theaters in einem immer stärker medialisierten Umfeld für die Debatte? Ist das Theater wirklich noch ein auch politisches Leitmedium oder ist es bereits vom Film und der Serienwelt abgelöst worden?

Um diesen Fragen im Rahmen eines interdisziplinären Seminars nachzugehen, werden wir uns nicht nur mit Klassikern der politischen Philosophie und der Theaterliteratur und -theorie beschäftigen, sondern auch den Kontakt zum zeitgenössischen Theater suchen.

 

Projektveranstaltungen:

Diskussion mit Reinhard Mehring & Philip Manow über Carl Schmitts „Hamlet & Hecuba“ (30. Juni 2022): Informationen hier

Podiumsdiskussion mit Milo Rau & Simon Strauß (25. September 2022): Informationen hier

Laufzeit: 2022

Förderer: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg