„KuBi goes fifteen“ – Reflexionsbericht über die Exkursion nach Kassel zur documenta fifteen
31.07.-02.08.2022
von Caroline-Sophie Pilling
Anmerkung: Dieser Bericht ist in der maskulinen Schreibweise gehalten. Dies ist keinem Geschlechtervorzug angelehnt, sondern dem Grund einer flüssigen Lesbarkeit der Arbeit. Die verwendete Schreibweise bezieht jedwedes biologische und angenommene Geschlecht (sex und gender) ein, sowie alle Menschen, die sich nicht einem Geschlecht zuordnen wollen oder können. Hervorhebungen sind kursiv markiert.
Studierende des Masterstudiengangs „Kulturelle Bildung“ reisten zwar nicht per Anhalter durch die Galaxis – es wäre dennoch ein treffendes Stichwort jener erlebten Zugreise, die uns nach Kassel, dem Heimatort der documenta bringen sollte und in Retrospektive bereits einen Vorgeschmack der aufregenden Kunsteindrücke lieferte, die auf uns warteten. Solche Erlebnisse wie der Umgang mit ausgefallenen und nicht weiterfahrenden Zügen (über mehrere Stunden hinweg) bringen eine neue Form der gesellschaftlichen Gestaltung hervor. Verwickelt in Gespräche mit Menschen, denen man nie begegnet wäre und die solch bewegende Einblicke in ihr Leben gaben, wie es nur sein kann, wenn plötzlich und durch die Verzahnung zahlreicher Faktoren, ein Zeit und Raum unabhängiger Kosmos entsteht. Dies sind (Bildungs-)Momente, die ein Leben lang im Gedächtnis bleiben und den Kern der Kulturellen Bildung bereits in sich tragen.
Die documenta fifteen selbst statuiert ein Exempel: Ein kunstrezeptioneller Culture Clash, zwischen kontextfreier Kulturbeschauung und politischer Polarisierung. Tatsächlich weniger durch die Rassismuskritik, die ausgelöst durch mehrere Kunstwerke mit antisemitischen Darstellungen, in den Medien brodelte – nicht vor Ort. Besagte Kunstwerke waren zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr zugänglich. Die Stadt Kassel entfaltete eher eine gelassene Atmosphäre in der die Frage nach den (politisierten) Grenzen der Kunst still verebbte. Die Polarisierung entfaltete sich durch den harten Zusammenstoß lokal-kultureller Lesarten ohne Kontextinformationen.
Das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa, dass für die Kuration der weltweit bedeutendsten Kunstausstellungsplattform beauftragt wurde, legte den Fokus auf die Entfaltung der Künstler(kollektive) nach dem Prinzip von lumbung. Dies sei der indonesische Begriff für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune: „Als künstlerisches und ökonomisches Modell fußt lumbung auf Grundsätzen wie Kollektivität, gemeinschaftlichem Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung und verwirklicht sich in allen Bereichen der Zusammenarbeit und Ausstellungskonzeption“ (vgl. documenta fifteen 2022).
Tatsächlich erweckte die inhaltliche Aufstellung der Ausstellung den Eindruck frei improvisiert zugewiesen zu sein, ohne einem durchdachten Konzept zu folgen. Dort fanden sich künstlerisch übersetzte Themenspektren wie das dänische Asylrecht neben Kunstwerken der Akteure von Atelier Goldstein und Verweisen auf islamische Geschichte, diasporische Fast-Food-Kultur und koloniale Vergangenheit – zusammengenommen eine Kontextfreiheit, der die Besucher/Rezipienten vollkommen ausgeliefert waren und sich durchaus Verzweiflung auf jenen Gesichtszügen zeigte, die davon sprachen den roten Faden finden zu wollen, den sie einfach nicht zu fassen bekamen. Lumbung schien für die Künstler(kollektive) gemacht, nicht für die Besucher. Ein elitär wirkendes Gebaren, das sich im Heimatort der documenta entfaltet.
Auffallend war die Dichte der partizipativ angelegten Kunstschaffung. Kunstwerke bestanden häufig aus der Sammlung einzelner Objekte, die innerhalb von (den entsprechenden Künstlerkollektiven initiierten) Gruppenworkshops über einen längeren Projektzeitraum entstanden sind. Das Credo der jeweiligen Künstlerkollektive lautete also: Kunst von allen. [Als Ausblick des Exkursionsresümees ließe sich diese – an den kulturpolitischen Appell Kultur für alle (Hilmar Hoffmann) anlehnende –Bezeichnung wunderbar mit einer weiterführenden Forschungsarbeit verbinden!]
Die partizipativ angelegte Kunstschaffung bildete zudem das Fundament einer Erweiterung des eigentlichen Kunstwerks: Die Dokumentation – mehrheitlich als Videoproduktion umgesetzt. Das geschaffene Kunstobjekt und die Aufzeichnung seines Entwicklungsprozesses formten zusammen eine eigene Form der Kunstrepräsentation.
Einen ebenso hohen Stellenwert, neben der partizipativen Kunst, schienen angewiesene Handlungen einzunehmen. Das von Künstler oder dem Künstlerkollektiv geschaffene Kunstwerk wurde so konzipiert, dass der Rezipient eine Handlung am Kunstwerk ausführen sollte und auf diese Weise mit dem Kunstwerk interagierte, ja sogar verschmolz oder das Kunstwerk durch die Rezipient-Objekt-Begegnung erst entstand, wie die Raumgestaltung durch das Skateboard fahren in der documenta Halle oder das Berühren eines Gegenstandes, der auf diese Berührung reagiert (indem er zum Beispiel seine Farbe verändert, eine Soundcollage entsteht, ein Temperaturunterschied oder ein Lichteffekt hervorgerufen wird usw.). Das angeleitete Spielen birgt verschiedene Wirkrichtungen, die historische und zeitgenössische Auslegungen von Kunst miteinander verknüpfen: Kunst als Handwerk und Kunst als Form des Entertainments (vgl. Schuster 2017: 20f.), die zusammen wiederrum ein verdichtetes Abbild von Gesellschaft liefern. Gehen wir zügig auf eine gesellschaftlich breit angelegte Infantilisierung zu?
Die Verdichtung von Kunstwerken der angewiesenen Handlung hat zur Folge, dass bei anderen Kunstwerken vehementer auf das Unterlassen ebenjener Rezipienten-Kunstwerk-Interaktion gewiesen wird: Bitte nicht berühren, please don‘t touch. Mit der Anweisung wie das Kunstwerk zu behandeln ist, das heißt dem ausdrücklichen Handlungsaufruf oder dem ausdrücklichen Verbot von Selbigem, kann sich der Spielraum der Interpretation verringern. Der Beziehungsaufbau zum Kunstwerk wäre damit unfrei und würde einer Ausführung vorgegebener Inhalte gleichen. Hier steht der Konjunktiv für den freien Interpretationsspielraum, der der Kunstrezeption eigentlich zugrunde liegt (oder liegen kann).
Das eigene Kunstverständnis über die Betrachtung eines Kunstwerks oder die Beziehung zwischen Rezipient und Kunstwerk bekommt nun eine vollkommen neue Gewichtung. Es lässt sich festhalten, dass der Handlungs-Anweisungscharakter des Künstlers neue Wirkrichtungen für den Rezipienten entfaltet. Die Rezipient-Kunstwerk-Beziehung geht nicht einzig vom Rezipienten selbst aus und spielt nicht mehr der individuellen Wahrnehmung zu, sondern wird von dem Kunstwerkschaffenden (allgemein als Künstler bezeichnet) maßgeblich beeinflusst. Der Künstler fungiert dabei als (politische) Instanz und bleibt ungreifbar für den Rezipienten, der für den Künstler selbst keine Einflussgröße darstellt.
Die Aufmerksamkeitsspanne des Rezipienten ist also intendiert erweitert zu werden. Sie richtet sich nicht nur auf das Kunstwerk, sondern genauso auf seine Player – den Künstler bzw. dem Habitus des Künstlerkollektivs und der Dokumentation des partizipativen Kunstschaffungsprozesses. Die partizipative Kunstschaffung (Kunst von allen) und die Wahrnehmungsform in der Interaktion zwischen Rezipient und Kunstwerk schienen die tragenden Faktoren der documenta zu sein, die auf die Begründung einer neuen Ära der Kunstrezeption blicken lassen.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die Exkursion zur documenta fifteen eine Vielzahl an Denkanstößen und Auseinandersetzungsprozessen geschaffen hat, ohne die Bildung nicht möglich ist. Der gemeinsame Austausch innerhalb der Exkursionsgruppe hat dabei zur eigenen Positionierung maßgeblich beigetragen.
Einen herzlichen Dank für die Ermöglichung dieser wertvollen Reise miteinander!
Quellen:
documenta und Museum Fridericianum gGmbH (Hrsg.) (2022): documenta fifteen. documenta-fifteen.de. Abgerufen am 03.08.2022.